Das Vorurteil, die Kunst des 19. Jahrhunderts sei weniger wertvoll, weil die Qualität häufig vernachlässigt und die historischen Vorbilder vielfach unschöpferisch verarbeitet worden sind, hat sich in der Kunstgeschichte lange hartnäckig gehalten.
Erst nach 1960 haben sich deutsche Wissenschaftler allmählich der Problematik des Historismus angenommen. In Vorpommern ist man diesem Weg seit dem Ende der 1970er Jahre gefolgt. Die Rezeption mittelalterlicher Baukunst, die Wiedereinführung des Backsteinrohbaus, Restaurierungen und Denkmalpflege sind an ausgewählten Sakral- und Profanbauten besprochen worden.
Mit dem vorliegenden Band geht die Autorin erstmals neuen Fragestellungen nach. Durch ein breit angelegtes Quellenstudium entstanden vertiefte Darstellungen der Planungsgeschichten von 23 Neubau-Projekten zu Kirchen und Kapellen im Regierungsbezirk Stralsund. Diese Recherchen fließen ein in eine umfassende Analyse der typologischen und stilistischen Merkmale der Bauten mit interessanten Verweisen auf nicht ausgeführte Entwürfe sowie Vergleichsbeispiele im südlichen Vorpommern und Brandenburg, die an zahlreichen Abbildungen nachvollziehbar sind. Es wird untersucht, in wie weit sich die Baumeister in dem 1815 Preußen zugeschlagenen, zuvor schwedischen Gebiet der Architektur im Königreich angeglichen oder aber ihre Eigenständigkeit bewahrt haben. Musterpläne, Normierung und Typisierung im Kirchenbau des 19. Jahrhunderts geraten dabei als Thema kritisch in das Blickfeld.
Im Katalog wird die Entwicklung der Baugestalt der Kirchen mit zum Teil verblüffenden Entwürfen nachgezeichnet. Die Einflüsse der an den Planungen beteiligten Architekten, Kirchengemeinden, staatlichen und kirchlichen Gremien finden ebenso Berücksichtigung wie der gesellschaftliche Kontext. Über das Schaffen der erwähnten Baumeister informiert ein ausführliches biografisches Verzeichnis.
Das Gebiet zwischen Recknitz, Peene und Ostsee weist ausgedehnte Küstenbereiche aus, in denen am Ende des 19. Jahrhunderts aus ehemals kleinen Fischerdörfern respektable Badeorte entstanden sind. Der Wunsch nach kirchlicher Betreuung der Gäste und Einwohner vor Ort gehörte zu den Faktoren, die die zweite Jahrhunderthälfte auch im untersuchten Raum zu der intensivsten Kirchenbauphase nach dem Mittelalter werden ließen.